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Titel
"Petite Science". Außeruniversitäre Naturforschung in der Schweiz um 1900


Autor(en)
Scheidegger, Tobias
Erschienen
Göttingen 2017: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
707 S.
Preis
€ 79,90
URL
von
Daniel Kauz, Historisches Seminar, Universität Zürich

Tobias Scheideggers Arbeit Petite Science hat die ausseruniversitäre Naturforschung um 1900 zum Thema, ein bislang in der Schweiz historiografisch kaum bearbeitetes Feld. Im Zentrum dieser thematisch strukturierten Arbeit stehen fünf Naturforscher: Christian Brügger, Heinrich Wegelin, Franz Leuthardt, Hans Bachmann, Issak und Adolf Bloch. In ihren jeweiligen kleinstädtischen Milieus – in Chur, Frauenfeld, Liestal, Luzern und Solothurn – waren die Akteure als Kantonsschullehrer, Museumskuratoren und Sektionspräsidenten der jeweiligen kantonalen Naturforschenden Gesellschaften verwurzelt, etablierten unterschiedlichste Beziehungen zu Kollegen, Professoren, Amateuren der Naturforschung, Laien und Gewährspersonen. Scheidegger schätzt diese Form ausseruniversitärer Wissensproduktion als «eigenen Modus naturgeschichtlicher Wissenschaftsforschung» ein, die «in epistemischer wie sozialer Hinsicht eine bedingt autonome Sphäre ausbildete» (S. 33). Innerhalb des Spektrums der Naturforscher handelt es sich bei diesen Akteuren, wie Scheidegger hervorhebt, um einen spezifischen, dem Lokalen verpflichteten Typus, im Gegensatz beispielsweise zu Sammlern aus dem städtischen Grossbürgertum, etwa in Basel.

In sieben Kapiteln analysiert der Autor die vielfältigen Praktiken, wie pflanzliche und tierische Objekte präpariert, konserviert, präsentiert wurden und untersucht die Techniken der Inventarisierung, unter welchen Liste und Katalog die gebräuchlichsten Wissensformate darstellten. Auf welche Weise die Zirkulation von Objekten, der Tausch und das Geschenk von Sammlungsgegenständen zwischen den Protagonisten Netzwerke konstituierte und Beziehungen etablierte, wird in einem separaten Kapitel ausgeführt. Detailliert werden die Praktiken des Tauschs und der Gabe von Artefakten, die damit einhergehenden Semantiken wechselseitiger Ehrbezeugung, die Codes der Widmungen, Erwähnungen und Danksagungen untersucht. Die exemplarische Rekonstruktion eines Streits um nomenklatorische Grundsätze zeigt, wie viel für die Akteure auf dem Spiel stand. Umfassend werden die lokalen institutionellen Räume beleuchtet, von welchen aus die Naturforscher agierten: Museum, Verein, Gymnasium. Landschaft wird in einer doppelten Funktion analysiert: einerseits als Erkenntnisraum, Materialreservoir gewissermassen, andererseits auch als Raum für Erlebnis und Geselligkeit sowie als Exkursionsdestination. Scheidegger setzt damit die Praxis der Naturforschung auch in Bezug zu einem aufkommenden Naturschutzgedanken wie auch zur verstärkten Wahrnehmung der Landschaft als touristischem Raum. Das abschliessende Kapitel widmet sich der ausseruniversitären Naturforschung in ihren häuslichen Dimensionen («Heimwissenschaft») sowie als sogenannter «Heimatmaschine».

Die Analyse dieser spezifischen ausseruniversitären Forschungspraxis gerade in ihrem Verhältnis zur universitären bildet eine zentrale Perspektive dieser Arbeit, die diesbezüglichen Bestimmungen bleiben aber bisweilen etwas stereotyp. Obschon sich Scheidegger einleitend gegen ein inzwischen in der Wissenschaftsgeschichte vielfach kritisiertes Fortschrittsnarrativ verwahrt – von der klassifizierenden Sammlungs- zur experimentierenden Laborwissenschaft –, kehrt dieses doch in seinen Ausführungen als interpretative Folie wieder.1 So wird die Praxis des Sammelns und Bestimmens als «naturgeschichtliche Forschungspraxis ziemlich klassischer Ausprägung» (S. 33) und tendenziell als «konservativ» rubriziert. Zudem hätten sich die Protagonisten kaum auf ein «theoretisches Parkett» (S. 196) gewagt (was auch immer damit gemeint sein mag) und gesamthaft sei ihre wissenschaftliche Bilanz als «bescheiden» (S. 622) einzustufen. Um diese wohl nicht grundsätzlich abwegigen Charakteristiken zu plausibilisieren, müsste der Autor aber doch zeigen, wie im Gegensatz dazu der akademischen Forschung theoretische Modelle und Forschungsagenden zugrunde lagen und diese substantiellere Leistungsbilanzen aufwiesen. Zu fragen wäre darüber hinaus auch, ob die universitären Protagonisten mit ihren vielfältigen Kontakten zu Akteuren der Petite Science, wie etwa dem Zürcher Professor für systematische Botanik, Pflanzengeografie und Pflanzengeschichte Hans Schinz, in ihren akademischen Kontexten ebenfalls als tendenziell rückwärts gewandt galten. Mehr würde man gerne über die Abgrenzungen zwischen universitärer und ausseruniversitärer Sphäre erfahren. Spuren für weiterführende Interpretationen bietet die Arbeit einige, etwa das Erscheinen der Flora der Schweiz von Hans Schinz und Robert Keller zur Jahrhundertwende: Intention der Autoren war es, die Excursionsflora für die Schweiz (1867) des Thurgauer Amateurbotantikers August Gremli «zu ersetzen und von der Bildfläche verschwinden zu lassen» – eines der zahllosen wunderbaren Quellenfundstücke des Autors (S. 321).

Stärke und Qualität dieser Studie zu ausseruniversitärer Naturforschung liegt in ihrem geradezu panoramischen Charakter. Kehrseite dieser Darstellung ist jedoch, dass transformative Prozesse weitgehend ausgeblendet bleiben. Präziseres wünscht man über die Umfassungen dieses «epistemologischen Raumes» (Michel Foucault) ausseruniversitärer Naturforschung zu erfahren, der sich durch spezifische Praktiken und Organisationsformen des Wissens charakterisierte. Wann, auf welche Weise etwa endete dieser Typus? Interessant wären diese Fragen gerade auch im Kontext anderer vereinsmässig organisierter Formen der Wissensproduktion.

Bisweilen verselbständigen sich die Interpretationen und gleiten dabei allzu sehr ins Allgemeine ab. Gerade im Begriff «Heimat» scheint ein erhebliches Reizpotential zu liegen (S. 566–568). Im Falle von Franz Leuthardts Liestaler Wohnstätte, einem «Heimatstil-Haus» mit umliegendem Garten, ortet Scheidegger zusammenfassend «mehr als ein[en] Architekturstil oder eine Wohnform», vielmehr «einen Vorposten jener konservativen Reformbewegungen, die unter Anrufung von Natur und Heimat an Alternativmodellen zur liberalen Moderne bastelten» (S. 628). Konkrete Belege für diese freischwebenden Schlüsse fehlen allerdings. Das sogenannte Heimatstil-Haus war wohl zunächst einfach die verbreitetste Bauweise in ländlichen Gegenden für ein zu Wohlstand gekommenes Bürgertum. Angezeigt wäre es, «Heimat» zunächst schlicht als Metonymie des Lokalen zu fassen. Erst anschliessend wären die Schichten des Ideologischen sorgfältiger und spezifischer herauszuarbeiten. Die sogenannte «Heimatmaschine» (S. 57), an welcher die «petite science» mitgewirkt habe, manifestiert sich dann zuweilen eher als hochtourig rotierende, historische Interpretationsmaschine.

Ähnliches gilt für die Ausführungen zum Studierzimmer des Provinzgelehrten Leuthardt (S. 528–566). Die fotografisch überlieferte Klause des Lehrers und Naturforschers mit Schreibtisch, Vitrinen, Schubladenkorpus, geometrischen Zeichenwerkzeugen und meteorologischen Messgeräten wird als «quasimuseale Inszenierung» und «gezielte wissenschaftliche Selbstdarstellung» gedeutet (S. 540). Zudem korrespondiere die Enge des Studierzimmers mit dem kleinräumigen Forschungshorizont des Akteurs. So bestechend diese Deutungen aufs Erste auch sein mögen, so sehr verkennen sie, in welchem Masse etwa ein solcher Einrichtungsstil einem allgemeinen bürgerlichen Modegeschmack im ausgehenden 19. Jahrhundert entsprach, der schliesslich auch in Liestal Einzug gehalten hatte. So weist Walter Benjamin in seinem Fragment gebliebenen Passagen-Werk auf den damaligen «Fortifikationscharakter»2 von Interieurs hin und führt aus: «Das 19. Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, dass man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt.»3 Wiederum wäre also hier genauer zwischen Allgemeinem und Besonderem zu differenzieren.

Gesamthaft liegt mit Tobias Scheideggers Petite Science eine beeindruckende, überaus materialreiche Arbeit vor. Sie zeigt einmal mehr, wie ergiebig eine Wissenschaftsgeschichte ist, die den schmalen Höhenkamm exklusiver akademischer Wissensproduktion verlässt.

1 Wie Pickstone ausführt: «Analysis (or classification more generally), is to easily dismissed as timeless or preliminiary to real knowledge – in part because classification is associated with natural history and other activities which historians of science [...] have seen as old-fashioned or marginal.» John Pickstone, Museological Science? The Place of the Analytical/Comparative in Nineteenth-Cen- tury Science, Technology and Medicine, in: History of Science 32/2 (1994), S. 111–138, hier S. 133.
2 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. 2009, S. 284
3 Ebd., S. 292.

Zitierweise:
Kauz, Daniel: Rezension zu: Scheidegger, Tobias, «Petite Science». Ausseruniversitäre Naturforschung in der Schweiz um 1900, Göttingen 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (1), 2020, S. 143-145. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00054>.

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